Kaltes Wasser.

Diese Woche wurde ich Hals über Kopf ins sprichwörtliche kalte Wasser geworfen. Eine Kollegin und ein Kollege haben mich an zwei Tagen ihre gesamten Sprechstundentermine übernehmen lassen. Sie saßen dabei, um aufzupassen, dass ich alles richtig mache und um einzuspringen, falls ich Fragen oder Probleme hätte, aber die Regie lag bei mir. „So, heute machst du das mal. Wir tauschen jetzt die Plätze.“

Und dann saß ich da, ganz ohne Vorwarnung. Bisher hatte ich in den Sprechstunden immer nur dabei gesessen, zugeschaut, zugehört und die anfallenden Arbeiten übernommen, aber nicht die Gespräche geführt. Natürlich habe ich immer gut aufgepasst und weiß genau, wie diese Termine ablaufen, und das ist zum Glück immer ziemlich gleich und sehr schematisch, aber plötzlich auf dem anderen Stuhl zu sitzen und alles selbst zu übernehmen, war etwas ganz Anderes. Dementsprechend war ich fürchterlich nervös, fahrig und zerstreut. Zumindest innerlich. Von außen merkt man mir sowas nie an, jedenfalls wird mir das immer wieder gesagt. „Du bist ja ganz ruhig“, „du wirkst so souverän“, „das sieht alles sehr entspannt aus bei dir“. Na ja. Meine Mimik und Körpersprache sind eben nicht unbedingt besonders expressiv. In meinem Kopf herrschten auf jeden Fall Chaos und Hektik. Die Arbeiten an sich bekomme ich inzwischen völlig automatisch hin und die einzelnen Schritte der Sprechstundentermine sind mir vollkommen klar. Ich weiß genau, was wann zu tun ist und warum. Ich weiß, welches Anliegen wie bearbeitet werden muss. Ich kann das alles. Aber auf einmal musste ich dabei auch noch mit Menschen interagieren und Menschen sind so schrecklich unberechenbar, selbst in so einer berechenbaren und strukturierten Situation. Manche sind auch noch in Plauderstimmung, was für mich besonders schwierig ist. Smalltalk und gleichzeitig arbeiten? Oh je… Smalltalk an sich ist für mich ja schon Arbeit.

Das heißt, ich war die ganze Zeit hochgradig konzentriert und aufmerksam. Gleichzeitig sausten hunderte Gedanken und Eindrücke durch meinen Kopf, die ich kaum ordnen konnte und die mir die Konzentration erheblich erschwerten. Nervosität sorgt dafür, dass ich viel mehr wahrnehme, als ohnehin schon. Ich habe dann das Gefühl, ziemlich zäh zu handeln und zu denken. Es ist ein bisschen so, als müsste ich mit starken Kopfschmerzen oder einer dicken Erkältung, bei der sich mein Hirn ganz schwerfällig anfühlt, einem anspruchsvollen Vortrag folgen und gleichzeitig sinnvolle Notizen dazu schreiben oder sowas. Ich habe dabei den Eindruck, als würde alles um mich herum rasend schnell passieren und ich selbst könnte nur in Zeitlupe handeln und denken, obwohl ich eigentlich bei dem rasend schnellen Tempo meiner Umgebung mithalten müsste. Es geht irgendwie, aber es ist sehr anstrengend und fühlt sich wirklich nicht gut an. Und es ist mir ein absolutes Rätsel, wie sich etwas für mich selbst so schwierig anfühlen kann, ich aber gleichzeitig scheinbar so wirke, als wäre ich die Ruhe selbst und hätte alles im Griff.

Auch, wenn gar nichts schief gegangen ist und nichts Unerwartetes passiert ist, war ich am ersten Tag die ganze Zeit ziemlich angespannt. Erst bei den letzten ein, zwei Terminen wurde es in meinem Kopf und damit auch ich selbst ruhiger. Am zweiten Tag war ich am Anfang wieder schrecklich nervös, aber da hat es sich immerhin schon schneller gelegt und ich habe mich nicht mehr ganz so hilflos und chaotisch gefühlt. Es gab zwischendurch sogar Momente, in denen ich mir selbst einigermaßen souverän vorkam. Mit der Nervosität hat schließlich auch das wilde Chaos in meinem Kopf nachgelassen und das wiederum hat mir Nervosität genommen und damit mehr Chaos beseitigt. Eine wunderbare Aufwärtsspirale. Ich hätte nie gedacht, dass das so schnell gehen kann. Mir war von Anfang an klar, dass ich irgendwann Termine würde übernehmen müssen, aber ich dachte, dass ich ewig brauchen würde, um das auf die Reihe zu bekommen und hatte wirklich Angst davor. Jetzt denke ich, dass ich mich beim nächsten Mal vielleicht schon nach zwei, drei Terminen ganz gut fühlen könnte. Mal schauen.

Meine Stützen sind die klare, vorgegebene Sprechstundenstruktur und das Formular, das zur Protokollierung des Termins nebenbei ausgefüllt werden muss. Ich kann es einfach Punkt für Punkt abarbeiten. „Geben Sie mir bitte als erstes Ihren aktuellen Aufenthalt. Ah, er wurde verlängert, dann trage ich das schon mal ein.“ Punkt eins erledigt. „Hat sich an Ihrer Einkommenssituation etwas geändert?“ „Nein.“ Okay, Punkt zwei abgehakt. „Wohnen Sie weiterhin im selben Wohnheim?“ „Ja.“ „Gut, dann mache ich Ihnen eine neue Kostenübernahmebescheinigung fertig.“ Nächster Punkt erledigt. „Sie sollten die Schulbescheinigungen Ihrer Kinder mitbringen. Haben Sie die dabei?“ „Ja, hier.“ Und so weiter. Das ist wirklich sehr autistenfreundlich.

Nach der Ausbildung möchte ich trotzdem nicht in einer Abteilung mit so viel und so regelmäßigem Publikumsverkehr arbeiten. Das wird mir auf Dauer ganz sicher zu viel. Aber in den nächsten Wochen, die ich noch in dieser Praxisstelle verbringe, werde ich das meistern. Auch, wenn es bestimmt jedes Mal am Anfang mit viel Nervosität verbunden ist. Ich habe gemerkt, dass ich das schaffen kann, und das ist wirklich ein gutes Gefühl. Es war zwar erst mal überhaupt nicht schön, aber im Nachhinein betrachtet auch längst nicht so fürchterlich, wie es hätte sein können. Wer weiß, vielleicht fühle ich mich am Ende dieser Praxisphase sogar annähernd so souverän, wie ich scheinbar wirke.

Ich habe, wenn man so will, autistische Superkräfte.

„Du isst nie, du trinkst nie, du spielst nie mit deinem Handy rum und du merkst dir immer alles. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir!“

Das hat mein Chef diese Woche im Scherz zu mir gesagt und er hat damit in gewisser Weise vollkommen recht. Aus seiner Sicht wirke ich wahrscheinlich wie ein Roboter. Natürlich esse und trinke ich und natürlich spiele ich auch mit meinem Handy herum, aber nicht während der Arbeitszeit. Sowas gehört für mich eindeutig in die Mittagspause, nicht an den Schreibtisch. Egal, wie entspannt die anderen Kolleginnen und Kollegen das sehen und handhaben. Arbeitszeit ist für mich Arbeitszeit, Pause ist Pause, ganz klar geregelt und getrennt, ganz einfach. Privatsachen haben bei meiner Arbeit nichts zu suchen und die Arbeit gehört nicht in meine Pause. Das mag steif, streng und für viele Menschen langweilig und engstirnig klingen, und vermutlich ist es das auch, aber für mich ist es wichtig und gut so. Alle anderen können das meinetwegen so machen, wie sie möchten und wie es zu ihnen passt. Aber ich will und brauche diese Abgrenzung. Dadurch bin ich ganz bei der Arbeit, wenn ich bei der Arbeit bin. Das macht mich so konzentriert, so fokussiert und auch so merkfähig und das bin ich sehr, sehr gerne. Ich bin einfach immer voll und ganz bei der Sache, mit echtem Interesse und Begeisterung.

Und das verdanke ich meinem Autismus. Klar, in vielen Dingen ist er absolut nicht hilfreich, vor allem, wenn es um soziale Interaktion geht, aber arbeiten und mich dabei ganz und gar auf etwas einlassen, das kann ich richtig gut, dafür ist mein Hirn wie gemacht, das bereitet mir sehr viel Freude. Gefallen muss mir die Tätigkeit dabei schon, zumindest im Großen und Ganzen, aber das ist bei meiner Ausbildung auch absolut gegeben, also besteht da kein Problem. Jeden Tag merke ich ein bisschen mehr, wie gut dieser Beruf zu mir passt, den ich gerade erlerne. Momentan bin ich zwar in einem Bereich, in dem es verhältnismäßig viel Publikumsverkehr gibt, aber allein gelassen werde ich damit selbstverständlich nicht. Bisher bin ich bei Terminen einfach nur dabei und werde ganz langsam herangeführt, sie selbst zu übernehmen. Was ich schon weitgehend selbstständig übernehmen kann, ist die tatsächliche Bearbeitung der Anliegen der Personen, die zu uns kommen. Das überrascht meinen Chef sehr und mich ehrlich gesagt auch ein bisschen. Zum Glück laufen die Termine an sich immer sehr schematisch ab. Da werde ich mich schon für die Zeit, in der ich in diesem Bereich arbeite, hineinfinden und damit arrangieren, sie bald auch selbst übernehmen zu müssen. Außerdem ist es, wenn man den gesamten Beruf betrachtet, nur ein wirklich kleiner Teil der Arbeit, der so abläuft, und ich werde nicht auf Dauer irgendwo arbeiten müssen, wo es Publikumsverkehr gibt. In den allermeisten Bereichen hat man nur zu Kolleginnen und Kollegen direkten Kontakt. Ich bin also sicher, dass ich meine Nische finden werde.

All die Dinge, die ich, vor allem beim Arbeiten, gerne mag und die mir wichtig sind, die sozusagen in meiner Natur liegen, sind für meinen neuen Beruf wichtig. Ich muss genau sein, sehr sorgfältig und strukturiert, sehr analytisch, ich muss mich gut konzentrieren können und jede Menge Vorgaben und Regelungen beachten und dabei sehr systematisch vorgehen, damit alles einheitlich ist und seine Richtigkeit hat. Ich muss meine Arbeit wirklich ernst und wichtig nehmen, um sie gut zu machen und meinen eigenen Ansprüchen zu genügen und ich muss mich ihr ganz verschreiben, während ich arbeite. Das alles fällt mir dank meines Autismus wirklich leicht. Das ist genau das, was mein Hirn zufrieden stellt. Deshalb habe ich in der vergleichsweise kurzen Zeit, die ich bisher in meiner Praxisstelle verbracht habe, schon so viel gelernt. Deshalb bin ich in dem, was ich bisher machen muss, schon ziemlich gut. Natürlich ist immer noch vieles ganz neu, denn es kommt täglich irgendwas Neues dazu, aber ich finde mich schnell ein. Lernen macht mir einfach Spaß und fällt mir sehr leicht, wenn mir etwas gefällt. Leichter, als den meisten anderen Menschen. Leichter, als den meisten Nicht-Autisten. Mein Autismus ist da wirklich ein Vorteil mit all der Begeisterungsfähigkeit, die er mitbringt, der Hingabe, Loyalität, Ernsthaftigkeit, Ausdauer, Ordnungsliebe und dem Verantwortungsbewusstsein. Von all dem habe ich ein bisschen mehr abbekommen, als die meisten Menschen. (Das ist ziemlich autismustypisch. Die liebe NetKlar zum Beispiel hat auch mal was dazu geschrieben.) Und genau das ist es, was ich in diesem Beruf nutzen kann und will, was mich darin besonders gut macht. Genau das ist es, auf das ich meinen Fokus legen möchte. Ja, ich habe Schwächen und Einschränkungen. Ja, ich kann viele Dinge nicht oder nur sehr schlecht, die anderen vollkommen leicht fallen. Aber ich kann manche Dinge eben auch besser und leichter als andere. Ich habe, wenn man so will, autistische Superkräfte. Und das ist was Gutes.

Schneekugelkopf.

Sie sausen und kreisen und wirbeln wild durcheinander durch meinen Kopf, die ganzen neuen Informationen, wie Schneeflocken in einer Schneekugel, die kräftig durchgeschüttelt wurde. Ein wirres Informationsschneegestöber in meinem Hirn sozusagen, vollkommen ungeordnet, ohne jede Struktur und Ruhe, viel zu schnell, viel zu hektisch und viel zu viel auf einmal. Mit jeder neuen Information entstehen neue Wirbel, neues Chaos, neue Unruhe, ganz so, als wäre die Schneekugel noch mal durchgeschüttelt worden. Und noch mal. Und noch mal. Es hört einfach nicht auf. Neuer Input, neue Sturmböen. Ich sehe sie alle, diese lustig tanzenden Informationsschneeflöckchen, aber ich kann kaum was erkennen und greifen kann ich sie schon gar nicht. Das geht so nicht. Da muss Ordnung rein. Aus einem wilden Informationsschneegestöber kann ich kein Wissen machen und das fühlt sich einfach fürchterlich an, frustrierend, als wäre ich unzureichend, nicht intelligent genug. Also darf die Schneekugel nicht mehr geschüttelt werden, zumindest für eine Weile nicht. Ich muss das Schütteln stoppen. Zur Ruhe kommen. Mir Zeit nehmen. In der Mittagspause zum Beispiel und ganz besonders natürlich zu Hause. Das ist dann so, als würde man die Schneekugel einfach mal in Frieden lassen und sie auf den Tisch stellen. Und wenn sie so herumsteht, dann wird das Schneegestöber nach und nach immer langsamer und ruhiger, das wilde Sausen und Kreiseln und Wirbeln wird weniger, das Durcheinander nimmt ab, die Flöckchen sinken Stück für Stück weiter und weiter nach unten, ganz gemächlich, bis sie endlich alle auf dem Schneekugelboden liegen, vollkommen still. Dann sind sie keine vereinzelten Flöckchen mehr, sondern eine wunderbare, weiche Schneedecke. Eine Einheit. So ähnlich funktioniert das mit dem Informationsschneegestöber in meinem Kopf. Natürlich stelle ich den nicht auf den Tisch, das stelle ich mir sehr ungemütlich vor und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich ihn absetzen kann, ohne ihn in seiner Funktion erheblich zu beeinträchtigen. Vermutlich eher nicht. Also lege ich ihn lieber aufs Sofa, zusammen mit dem Rest von meinem Körper. Und dann warte ich. Ich warte, bis sich der wirbelnde Sturm aus neuen Informationen in meinem Hirn gelegt hat. Bis Ruhe herrscht. Bis sich die Informationen sozusagen gesetzt haben. Wenn das geschafft ist, kann ich das ganze Neue in aller Ruhe betrachten, mir Gedanken darüber machen, es ordnen, eine Struktur reinbringen. Das geht von Tag zu Tag ein bisschen leichter, weil von den Tagen davor schon eine immer dicker werdende Schicht an geordneten Informationen herumliegt. Die zieht die neuen Informationen regelrecht an. Und dann sind da auf einmal nicht mehr viele lose Informationsschneeflöckchen, die sich überhaupt nicht richtig greifen lassen, sondern ein Gefüge. Ein Gefüge, das ich verstehe, das Sinn ergibt, das jeden Tag um einen Haufen neuer Informationen wächst. Dann ist da wunderbares, neues Wissen.

 

Irgendwie nehme ich vieles ernster als alle anderen.

Das ist zumindest gerade mein Eindruck. Da sind zum Beispiel meine Arbeitszeiten. An meinen drei Praxistagen soll ich je 7,8 Stunden arbeiten und 0,5 Stunden Mittagspause machen. Das sind zusammen 8,3 Stunden Anwesenheit, also in etwa acht Stunden und zwanzig Minuten. Daran halte ich mich, und zwar absolut exakt. Wir haben so einen schicken Gleitzeitbogen, in dem wir genau nachschauen können, wie lange wir bleiben müssen, wenn wir wann gekommen sind. Außerdem kann man daran genau ablesen, welche Feierabendzeit bei welchem Arbeitsbeginn zu wie vielen Plus- oder Minusminuten führt. Wir Auszubildenden sollen weder Plus- noch Minusminuten machen, sondern immer bei 0 rauskommen. Unsere Zeiten tragen wir in eine Monatstabelle ein und die müssen wir nach Ende jeden Monats einreichen. Natürlich kann man da schummeln, weil nichts elektronisch erfasst wird, und natürlich mache ich das nicht. Das wäre Betrug. Mein Praxisanleiter und die anderen Kolleginnen und Kollegen sehen das deutlich lockerer. Sie haben mir bisher wirklich an jedem Praxistag gesagt, dass ich ruhig schon gehen kann, man habe ja nun sowieso nichts mehr für mich zu tun, die zehn, fünfzehn Minuten würden doch nichts machen, ich müsse das schließlich nicht so eintragen. Das kann ich aber nicht. Und ich will es auch nicht. Das ist meine Arbeitszeit, meine Ausbildungszeit, die will ich nutzen, mal ganz abgesehen davon, dass ich dafür bezahlt werde und dazu verpflichtet bin, mich an die Regeln zu halten. Also bleibe ich da und lese in der übrigen Zeit in Gesetzen. Zum einen interessiert mich das alles wirklich und zum anderen gibt es so viel zu wissen! Außerdem muss ich täglich mein Berichtsheft führen und am Monatsende abgeben. Angeblich macht das niemand so. Stattdessen wird es scheinbar aufgeschoben und dann wird am Ende des Monats, kurz vor der Abgabe, alles hektisch nachgetragen. Ich mache das aber, wie angeordnet, jeden Tag, und zwar sehr sorgfältig, genau so, wie es uns in der Einführungswoche erklärt wurde. Die Kolleginnen und Kollegen wundern sich über all dieses Pflichtbewusstsein. Wahrscheinlich bin ich die seltsamste, übermotivierteste Auszubildende, die sie jemals kennengelernt haben.

Was ich auf jeden Fall auch zu ernst nehme, sind bestimmte Ansagen von meinem Praxisanleiter. Mindestens einmal am Tag trennen wir uns für eine Weile, und wenn es nur für die Mittagspause ist. Das wird sich in Zukunft bestimmt noch ändern, weil ich dann hoffentlich mehr eigenständig arbeiten kann, aber momentan muss ich eben noch sehr vieles gezeigt bekommen und kann eigentlich noch nichts richtig alleine machen. Das liegt auch daran, dass ich zu der Fallverwaltungssoftware aus rechtlichen Gründen keinen eigenen Zugang bekommen kann, aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls gibt er dann immer ungefähr vor, wann wir uns wieder treffen und sagt, dass er mich dann in meinem Büro abholen kommt, damit ich weiß, wann er soweit ist. Manchmal muss er eben auch mal zügig was abarbeiten. Ausbilden ist nunmal nur sein Nebenjob und ich kann die Zeit wunderbar zum Gesetzelesen und zum Berichtsheftschreiben nutzen. Meistens macht er sogar eine ungefähre Zeitangabe wie „so gegen halb“ oder „in 30, 40 Minuten“. Ich nehme das dann ernst und wörtlich. Er aber nicht. Das habe ich inzwischen verstanden. Was nämlich passiert, ist, dass ich mich in irgendwas vertiefe, nicht so richtig auf die Zeit achte und er nicht auftaucht. Irgendwann merke ich, dass die genannte Zeit längst vorbei ist. In den ersten zwei Tagen hat mich das total überfordert und ich wusste überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll. Es hieß ja, er würde zu mir kommen, wenn er soweit ist. Also saß er gerade vielleicht an irgendwas sehr Wichtigem, da wollte ich natürlich nicht stören. Aber die Zeit verging und verging und ich wartete und wartete und irgendwann nahm ich allen Mut zusammen und ging in sein Büro. Er sagte dann etwas wie „Ah, da bist du ja, dann können wir ja weitermachen“, so, als hätte nicht ich auf ihn gewartet, sondern er auf mich. Höchst verwirrend. Nachdem das drei, vier Mal so gelaufen ist, habe ich beschlossen, den genauen Wortlaut dieser merkwürdigen Zeitangaben zu ignorieren und mich einfach immer selbst aufzumachen, wenn die ungefähre Zeit rum ist. Das hat mich die ersten paar Male einiges an Überwindung gekostet. Bisher hat es aber geklappt und ich wurde nicht wieder weggeschickt. Verwirrend finde ich es trotzdem.

Außerdem scheint es für alle irgendwie verwunderlich zu sein, dass ich immer sehr eifrig und mit voller Konzentration dabei bin. Das wiederum finde ich verwunderlich, weil es für mich völlig selbstverständlich ist, dass ich möglichst schnell möglichst viel lernen will, damit ich auch nützlich bin. Mein Praxisanleiter ist nicht der einzige, der mir etwas beibringt. Die anderen Kolleginnen und Kollegen zeigen und erklären mit auch sehr viel und lassen mich Aufgaben übernehmen, bislang noch unter Aufsicht, aber immerhin. Und sie sind allesamt erstaunt, dass ich fleißig und engagiert bin, mir vieles schnell merke, schnell lerne, möglichst viel lernen möchte und eigenständig bin. Ich möchte eben arbeiten, etwas leisten, wirklich gut in allem sein, am liebsten schon gestern. Mir geht das alles nicht schnell genug, auch wenn mir klar ist, dass niemand so schnell alles können und wissen kann oder gar muss und dass es durchaus Vorteile hat, alles häppchenweise zu lernen. Trotzdem wäre ich am liebsten schon weiter, obwohl ich, wie mir mehrmals gesagt wurde, schon weiter bin, als ich sein müsste. Ich sage mir zwar immer wieder, dass ich noch ganz am Anfang stehe, dass es eine Ausbildung ist und es eben dazugehört, erst mal viel zuzuschauen, mich einzufinden, Schritt für Schritt alles einzuordnen und zu verstehen und so weiter, aber ich denke trotzdem die ganze Zeit, ich wäre irgendwie faul und müsste eigentlich viel härter arbeiten. Genau das ist es eigentlich auch, was ich will. Arbeiten. Keine Kaffeekränzchen, wie die anderen sie immer wieder halten, keine ewigen Gespräche über Urlaube oder Schönheitsoperationen, nein, ich will einfach an meinem Schreibtisch sitzen und arbeiten. Fleißig, zielgerichtet, konzentriert. Wie so eine Streberin. Das bin ich eben. Arbeit nehme ich sehr ernst.

Das klingt jetzt vielleicht irgendwie negativ, ist es aber eigentlich gar nicht. An sich war die Woche auf jeden Fall schön. Ich habe viel gelernt, sowohl im Büro als auch an der Berufsschule, und wenn ich mir ein bisschen Ruhe nehme und darüber nachdenke, um wie viel mein Wissen und meine Sicherheit seit der letzten Woche angewachsen sind, dann weiß ich im Grunde, dass alles gut ist. Es ist okay, dass meine Kolleginnen und Kollegen alles ein bisschen lockerer sehen. Und es ist genauso okay, dass ich alles ein bisschen ernster und genauer nehme als sie. Nur das mit den merkwürdigen Zeitabsprachen zum Weitermachen, das nehme ich jetzt nicht mehr so ernst und wörtlich.

Informationsgewirbel.

Es war so viel los in dieser Woche und ich bin so voll mit Eindrücken, dass ich überhaupt nicht weiß, womit ich anfangen soll. Mir schwirrt noch ganz schön der Kopf. Viele Informationen sausen wild durcheinander in meinem Hirn herum und ich kann sie noch gar nicht richtig greifen. Manche haben sich aber schon nach und nach gesetzt und ich fange langsam an, zu verstehen, was ich in nächster Zeit genau machen werde, wie mein Alltag aussehen wird und wie ich meine Arbeit und den Bereich, für den ich in den nächsten Monaten arbeite, einzuordnen habe. Ich fange an zu begreifen, wie verschiedene Bereiche miteinander zusammenhängen und ineinander greifen, wie alles strukturiert ist und wie das Gesamtbild aussieht. Es ist alles noch sehr, sehr viel und sehr neu, aber in meinem Kopf ordnet sich alles Stück für Stück und setzt sich zusammen.

Von Montag bis Mittwoch hatten wir noch ein paar Einführungseinheiten, in denen wir zum Beispiel eine IT-Schulung und eine Arbeitsschutzunterweisung hatten und in denen wir uns in Gruppenarbeiten damit auseinandersetzen sollten, welche Erwartungen wir eigentlich an die Ausbildung haben und welche Erwartungen an uns gerichtet werden. Das war viel Input in sehr kurzer Zeit und ich war ziemlich informationsüberflutet, aber es war größtenteils auch interessant und hilfreich. Die Gruppenarbeit war natürlich besonders anstrengend für mich, weil es mir sehr schwer fällt, mit mehreren Menschen gleichzeitig zu interagieren, vor allem wenn ich sie alle so gut wie gar nicht kenne, aber wir hatten natürlich klare Aufgabenstellungen, die abgearbeitet werden mussten, also ging es die ganze Zeit um bestimmte Inhalte. Das ist für mich bedeutend einfacher als private Gruppensituationen. Die haben nämlich keinen Zweck und kein Ziel, jedenfalls nicht so, dass es für mich irgendwie erkennbar wäre.

Am Dienstag war ich zum ersten Mal in der Berufsschule. Wir wurden kurz von der Abteilungsleitung begrüßt, bekamen die Stundenpläne und dann ging auch schon direkt der Unterricht los, zumindest ein bisschen. Wir bekamen einen groben Überblick über die Inhalte der einzelnen Halbjahre und mussten erste kleine Aufgaben lösen. Wieder in Gruppen. Ich hoffe, das bleibt nicht die ganze Zeit so. Ab und an sind Gruppenarbeiten völlig okay für mich, aber dieses ständige Gerede mit mehreren Leuten gleichzeitig, die Lautstärke, die dann im Raum herrscht und das Anpassenmüssen an den Rhythmus und das Tempo einer Gruppe passen mir einfach nicht. Ich kann dann nicht wirklich gut denken und arbeiten, auch wenn der Input von anderen natürlich hilfreich sein kann. Ich hätte ihn bloß lieber auf andere Art. Durch ein gemeinsames Unterrichtsgespräch zum Beispiel. Mal abwarten, wie sich das entwickelt. Die Lehrerinnen und Lehrer scheinen, soweit ich sie bisher kennen gelernt habe, bis auf eine Ausnahme mindestens in Ordnung zu sein und die Fächer sind wirklich interessant. Ich habe mir auch gleich alle empfohlenen Lehrbücher gekauft und bin weiterhin ausgesprochen motiviert, mich mit den Inhalten auseinanderzusetzen und alles, wirklich alles zu wissen, zu verstehen und zu verinnerlichen. Das einzige, was ich bisher wirklich fürchterlich fand, war der Sportunterricht. Ja, Sportunterricht! Schulsport! Den habe ich jetzt jeden zweiten Freitag 90 Minuten lang. Der Lehrer ist gemein und lässt uns keine Zeit zum Duschen, was wirklich fies ist, da wir nach dem Sport noch 90 Minuten Unterricht haben. Außerdem müssen wir uns in der Pause vor dem Unterricht umziehen. Das finde ich ziemlich frech. Wer zu spät in die Halle kommt, dem werden schlechte Kopfnoten gegeben. Ja, es gibt sogar Noten für den Sport! Ich bin ein bisschen schockiert. Sieben wunderbare Jahre lang habe ich gedacht, das Thema Schulsport für immer hinter mir zu haben und jetzt das. Na ja. Da muss ich wohl durch. Als erstes steht Seilspringen an. Für jemanden wie mich, dessen Körpergefühl ziemlich eingeschränkt ist, ist das natürlich besonders spaßig. Ich möchte nicht wissen, wie ich dabei aussehe. Auf jeden Fall fühle ich mich alles andere als leichtfüßig und grazil, wenn ich dauernd über das Seil stolpere, es mir an den Hinterkopf knalle und mir die Beine damit fessle.

Das Interessanteste und Beste war natürlich, dass ich diese Woche endlich in meine erste Praxisstelle durfte. Es ist eine wirklich spannende Abteilung und es geht um wirklich Privates, deshalb gehe ich, wie angekündigt, nicht ins Detail, was einige konkrete Dinge angeht. Inhaltlich geht es um das Thema Asyl, genauer gesagt um Asylbewerber, die leistungsberechtigt sind. Das ist nichts Geheimes, sondern im Gegenteil etwas sehr Transparentes. Jeder kann vollkommen kostenfrei das Asylbewerberleistungsgesetz online lesen und auch in verschiedenen Formaten runterladen. (Aber über Interna, einzelne Personen, Situationen und Fälle werde ich wie gesagt natürlich nichts erzählen.) Am Mittwoch durfte ich zwischen zwei Schulungen schon mal kurz in die Abteilung reinschnuppern, die Kolleginnen und Kollegen begrüßen, die alle sehr freundlich wirkten, und meinen Arbeitsplatz einrichten. Meinen eigenen, festen Schreibtisch! Und ich teile mir das Büro mit nur einer einzigen Kollegin! Nach drei Jahren Großraumbüro ohne festen Arbeitsplatz ist das absolut paradiesisch für mich und ich werde mich bestimmt jeden Tag aufs Neue darüber freuen. Meinen Praxisanleiter, der in den nächsten Monaten natürlich mein wichtigster Ansprechpartner ist, habe ich auch kennengelernt und er hat auf mich bisher auch einen guten Eindruck gemacht. Ich denke, ich werde mich dort wohl fühlen. Am Donnerstag saß ich dann gleich morgens mit in der offenen Sprechstunde. Natürlich durfte und konnte ich im Grunde noch nichts machen außer zuzuhören, zuzuschauen und Fragen zu stellen, aber es war wirklich alles andere als langweilig. Direkt an der Sprechstunde beteiligt sein werde ich wohl nicht, weil die Zeit dazu dann doch zu kurz ist und ich gar nicht schnell genug so viel lernen kann, wie ich dafür wissen und können müsste, aber es war auf jeden Fall toll, mal direkt mitzuerleben, wie alles abläuft, mit welchen Anliegen die Menschen kommen, wie ihnen weitergeholfen werden kann und auch ganz allgemein, wie es so ist, dort zu sitzen. Außerdem kann ich jetzt den Kopierer bedienen, weiß wo ich Drucker- und Kopierpapier finde und verstehe, wie das Sachbearbeiterzuweisungssystem funktioniert, wie man welche Aktennummern liest und wie die internen Postfächer sortiert werden. Ein paar kleinere Aufgaben sind in der Sprechstunde also doch für mich angefallen und ich konnte mir auch vieles abgucken, zum Beispiel, wie die Software funktioniert, über die die digitalen Fallinformationen verwaltet werden, welche Informationen man wo finden kann zum Beispiel und wie man nach was suchen kann. Danach hat mein Praxisanleiter mir noch ein paar Dinge gezeigt und erklärt, mir noch etwas zum Lesen gegeben und dann war der Tag irgendwie auch schon vorbei. Die Zeit verging wahnsinnig schnell und ich habe jede Menge Informationen aufgesaugt. Erst dachte ich, es sei alles nur irgendwie durch mein Hirn durchgerauscht, aber als ich zu Hause zur Ruhe gekommen bin, habe ich gemerkt, wie viel eigentlich hängen geblieben ist und sich gesetzt hat. Am Montag werde ich dann zum ersten Mal in die genauen Arbeitsabläufe eingewiesen und bekomme hoffentlich die eine oder andere feste Aufgabe zugeteilt. Ich freue mich weiterhin sehr und bin unheimlich froh mit dieser Ausbildung, obwohl sie im Grunde immer noch nicht so richtig angefangen hat. Ich bin mir aber sicher, dass es insgesamt sehr gut wird.

Das Thema Autismus kam bisher noch nicht zur Sprache. Ich bin mir nicht sicher, ob die Ausbildungskoordination, die ja definitiv im Bilde ist, meinem Praxisanleiter Bescheid gegeben hat. Keine Ahnung, welche Informationen ihm vorliegen. Er hat jedenfalls noch nichts gesagt und ich auch nicht. Die gemeinsame Zeit war einfach viel zu knapp und es gab auch keinen konkreten Anlass, was zu sagen. Ich bin mir noch unsicher, wie ich vorgehen soll.

Auf alle Fälle hat mich mein Autismus bisher erfolgreich daran gehindert, mich richtig in die Gruppe oder zumindest in eine Teilgruppe zu integrieren. Die Grüppchenbildung hat nämlich längst angefangen. In der Praxis haben meine Mitauszubildenden und ich zwar nichts miteinander zu tun, aber wir sehen uns eben zweimal in der Woche in der Berufsschule. Und manche finde ich tatsächlich ganz nett. Ich brauche aber ungefähr dreimal so lange, um mit jemandem warm zu werden, wie andere Menschen und in einer Gruppe bekomme ich das eigentlich gar nicht hin. Zum einen, weil ich mit diesem ganzen geballten Sozialkram total überfordert bin und zum anderen, weil es mich auf verschiedenste Art und Weise anstrengt, was dazu führt, dass ich mich recht schnell zurückziehe und sowieso weitestgehend passiv verhalte. Ich brauche einfach Pausen. Nicht, weil ich nicht mitmachen will, sondern weil ich nicht kann. Eine Weile bekomme ich es immer ganz gut hin, weitestgehend normales Verhalten zu imitieren, ein bisschen über dies und das zu reden (was zugegebenermaßen momentan nicht so wahnsinnig schwierig ist, da wir alle gerade dieselben Themen haben und man sehr leicht Fragen stellen und beantworten kann wie „Und, in welcher Abteilung bist du? Was machst du da so? Wie gefällt es dir?“), aber meine Grenzen sind schnell erreicht. Mein Hirn spielt dann eben nicht mehr mit. In meinem Kopf wird alles zäh, ich kann nichts mehr sagen und meine Mimik macht auch nicht mehr das, was ich will, also werde ich still und höre höchstens noch zu, worüber die anderen reden. Die plaudern nämlich alle die ganze Zeit miteinander. Mir ist klar, dass das so nichts wird mit dem Kennenlernen und der Integration, aber ich kann es auch nicht ändern. So ähnlich war es auch, als ich am Donnerstag von einer Kollegin über den gesamten Flur der Abteilung geführt und jedem, wirklich jedem vorgestellt wurde. Klar, ich habe es geschafft, alle freundlich strahlend zu grüßen, aber das hat mich tatsächlich mehr angestrengt, als die knapp dreistündige, vollgepackte IT-Schulung davor und natürlich habe ich mir nicht einen Namen gemerkt. Das freundliche Strahlen, das Nicken, Lachen und Bedanken für die Willkommensgrüße an den richtigen Stellen und alles, was eben sonst noch bei solchen Vorstellungsrunden gemacht wird, haben meine gesamte Konzentration vereinnahmt. Das ist nicht schlimm, aber trotzdem ärgerlich. Finde ich zumindest. Zu den paar Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich direkt zu tun haben werde und die alle in einem Raum waren, als ich ihnen vorgestellt wurde, habe ich auch gleich gesagt, dass ich bestimmt noch ein paar Mal nach ihren Namen fragen muss. Ein Kollege war dann tatsächlich so lieb und hat mir einen Plan ausgedruckt, auf dem genau steht, wer in welchem unserer zusammenhängenden Büros sitzt. Jetzt kann ich immerhin die für mich erst mal wichtigsten Namen lernen.

Fürs erste fühle ich mich schon mal angekommen, auch wenn selbstverständlich alles noch total neu und fremd ist. Ich bin mir aber sicher, dass es gut ist, dort zu sein und diese Ausbildung zu machen. Und das ist ja das Wichtigste.

Mein Kopf ist voll.

Und dabei sind erst zwei Einführungstage vorbei! Zwei von vieren. Was meine Mitauszubildenden und ich in diesen Tagen lernen, ist zwar in allererster Linie organisatorischer Kram und hat mit der Arbeit an sich noch recht wenig zu tun, trotzdem ist das alles natürlich interessant und vor allem wichtig zu wissen. Ich mache meine Ausbildung im öffentlichen Dienst und der ist, wie sollte es auch anders sein, ein bürokratisches Monstrum. Das finde ich im Grunde gar nicht schlecht, denn alles ist säuberlich geregelt und klar strukturiert. Aber es ist wirklich viel, was wir in diesen für die Masse an Informationen doch recht wenigen Einführungstagen aufnehmen sollen. Es ist so eine Art Druckbetankung. Und deshalb ist mein Kopf gerade ziemlich voll. Natürlich gibt es zwischendurch auch mal lockere Momente und Phasen. Wir haben heute zum Beispiel eine sehr interessante und unterhaltsame Führung durch den Bezirk bekommen. Außerdem haben am wir am Anfang eine lustige kleine Vorstellungsrunde gemacht, bei der sich herausgestellt hat, dass ich nicht die einzige Geisteswissenschaftlerin mit Masterabschluss bin, die sich dann doch noch mal umorientiert hat. Das ist irgendwie ganz nett. Wer weiß, vielleicht verstehe ich mich tatsächlich mit manchen ganz gut. So richtig in Kontakt gekommen bin ich noch mit niemandem, aber alles andere hätte mich auch sehr gewundert. Kontaktaufnahme ist eben nicht gerade meine Stärke. Genau genommen kann ich das sogar überhaupt nicht. Und ich kann auch nicht sonderlich gut auf Kontaktaufnahmeversuche von anderen eingehen, vor allem nicht, wenn immer gleich ganze Grüppchen beieinander stehen und sich alle irgendwie mit irgendwem unterhalten. Vielleicht entsteht durch die Berufsschule und die Akademie ein bisschen mehr Kontakt in kleinerem Rahmen. Ich muss nicht unbedingt richtige Freundinnen finden, aber es wäre schön, keine komplette Außenseiterin zu sein. Mal sehen, wie sich das entwickelt.

Dann, und das war mir erst mal das Wichtigste, habe ich auch endlich, endlich meinen Ausbildungsplan bekommen, in dem genau steht, wann ich in welcher Abteilung arbeiten werde, welche Aufgaben ich dort bekomme und wie die einzelnen Ausbildungsziele aussehen. Soweit liest sich alles interessant und ich habe keine Station bekommen, auf die ich nicht neugierig bin. Gleich die erste scheint mir allerdings die für mich persönlich herausforderndste zu sein, aber ich versuche, mich jetzt nicht völlig verrückt zu machen, sondern erst mal abzuwarten. Am Mittwoch darf ich schon mal für zwei, drei Stündchen in die Abteilung reinschnuppern und am Donnerstag ist dann mein erster ganzer Tag dort. Der erste von ziemlich vielen. Laut Plan dauert meine Ausbildung drei Jahre (es sei denn, ich schaffe es wie geplant, die Bedingungen für eine Verkürzung zu erfüllen) und in dieser Zeit durchlaufe ich sechs Abteilungen. Dazwischen liegen insgesamt drei Akademieblöcke, also jedes Jahr einer, von jeweils ungefähr zweieinhalb Monaten. In jeder Abteilung bin ich also ungefähr fünf Monate lang. Parallel dazu findet jede Woche auch noch Berufsschulunterricht statt. Das wird eine ganze Menge Input! Ich bin sehr gespannt darauf und freue mich wirklich.

Der Berufsschulunterricht startet nächste Woche. Den Stundenplan habe ich noch nicht bekommen. Den gibt es erst am Dienstag, wenn ich das erste Mal in der Schule bin. So richtig weiß ich also noch nicht, was da kommt. Immerhin haben wir heute schon mal eine Bücherliste bekommen und einige Bücher wurden und werden uns freundlicherweise sogar geschenkt. Ich bin zum Beispiel bald stolze Besitzerin eines Exemplars des Bürgerlichen Gesetzbuches. Wenn ihr also irgendwas über eure Rechte und Pflichten als Bürgerinnen und Bürger wissen wollt, fragt mich einfach! Ich weiß zwar auch noch nicht so viel darüber, aber ich kann es immerhin für euch nachschlagen.

Insgesamt ist auf jeden Fall gerade alles sehr interessant und aufregend und ich bin sehr, sehr erleichtert, dass meine vollkommen irrationale Angst, es könnte eine Verwechslung gegeben haben und sie hätten gar nicht mich gemeint, sondern die Zusage eigentlich jemand anderem schicken wollen, ganz und gar unbegründet war. Natürlich! Meine Vertragsunterzeichnung war schon Anfang Juni. Das wäre längst aufgefallen. Trotzdem bin ich die Angst erst vorgestern, am ersten Tag, ganz losgeworden.

Ich kann also, wie angekündigt, weiter über meine Ausbildung berichten. Jippie! Was die einzelnen Abteilungen angeht, in denen ich arbeiten werde, und vor allem was viele konkrete Arbeiten angeht, die ich erledigen werde, kann ich natürlich nicht ins Detail gehen und ich werde deshalb bestimmt einige Dinge recht abstrakt halten müssen, denn ich will selbstverständlich nicht, dass irgendwelche Rückschlüsse auf einzelne Personen möglich sind. Wie der Ausdruck „öffentlicher Dienst“ schon sagt, stehe ich im Dienst der Öffentlichkeit, also im Dienst der Bürgerinnen und Bürger und bin damit natürlich dazu verpflichtet, ihre Privatsphäre zu schützen. Das nehme ich ausgesprochen ernst und es ist mir wirklich sehr wichtig. Und das ist selbstverständlich nicht nur ein persönliches Pflichtgefühl. Verschwiegenheit, was personenbezogene Informationen angeht, ist gesetzlich vorgeschrieben, genau wie bei allem, was Interna angeht. Ich denke, das ist klar. Es wird hier also in erster Linie darum gehen, wie ich mich als Autistin in diesem Umfeld bewege und wie es mir dabei ergeht, welche Erfahrungen ich im Bereich Inklusion mache zum Beispiel, oder an welchen Stellen mir mein Autismus das Leben schwerer oder eben auch leichter macht, denn meine andere Wahrnehmung und Herangehensweise hat definitiv auch viele Vorteile. Ich bin auf alles sehr gespannt.

Was ich aber auf jeden Fall schon mal verraten kann, ist, dass ich keinen Praxisabschnitt im Ordnungsamt haben werde. Ihr müsst also keine Angst haben, dass ich in einer unheilverkündenden Uniform hinter euren widerrechtlich parkenden Autos auftauche und Knöllchen hinter eure Scheibenwischer klemme. Hurra!

Morgen geht es los. Aaaaaaaaah!

Morgen endet sie, meine wunderbar geruhsame Auszeit zwischen meinem alten Job und meinem Neustart. Ich bin wirklich gut erholt und spreche jetzt Spanisch. Ich kann sogar Harry Potter auf Spanisch lesen. Eben habe ich mit „la cámara secreta“ angefangen.

Morgen geht es los. Morgen beginnt meine Ausbildung. Und ich bin schrecklich, schrecklich aufgeregt. Natürlich freue ich mich riesig und natürlich habe ich auch riesige Angst. Alles wird neu sein und fremd und ich werde jeder Menge Menschen begegnen. Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommen wird und wie ich damit umgehen soll. Ich habe keine Ahnung, wie man auf mich reagieren wird und wie das mit dem offenen Umgang mit meinem Autismus laufen und funktionieren wird. Ich habe keine Ahnung, wie es für mich sein wird, zur Berufsschule zu gehen, wieder in einer Art Klassenverband zu sein und mit MitschülerInnen konfrontiert zu sein. Ich weiß nicht, ob die LehrerInnen von meinem Autismus wissen und wenn nicht, ob ich davon erzählen soll. Ich weiß auch noch nicht, wie mein Stundenplan aussieht oder mein Ausbildungsplan, wann ich in welchen Abteilungen arbeiten werde zum Beispiel. Jede Menge Unsicherheiten. Alle machen mir riesige Angst, aber ich freue mich auch auf die Veränderung, auf den Neuanfang, auf das ganz andere Leben, das damit beginnt.

Was mir keine große Angst macht, ist das Fachliche. Lernen kann ich. Lernen macht mir Spaß. Und auch, wenn vermutlich nicht alles interessant sein wird, gibt es mit Sicherheit genug, das mir gefällt. Außerdem lerne ich diesmal tatsächlich Dinge, die ich konkret anwenden werde. Dinge, die ich für meinen Berufsalltag wissen muss. Das wird eine vollkommen neue Erfahrung, so einen richtigen Beruf zu erlernen, ganz anders als mein Linguistikstudium, und auch wenn das Studium spannend und faszinierend und toll war, freue ich mich darauf, dass jetzt alles ganz anders wird. Dass ich noch mal etwas ganz Anderes machen darf, mit ganz anderen Rahmenbedingungen, einer ganz anderen Herangehensweise und einem ganz anderen Ziel.

Morgen wird ein riesiger Informationsschwall über mir hereinbrechen und ich bin unheimlich gespannt darauf. Ich werde endlich erfahren, wie die nächsten zweieinhalb bis drei Jahre aussehen werden (natürlich habe ich vor, mich anzustrengen, gute Leistungen zu erbringen und die Ausbildung verkürzen zu können). Ich bin neugierig und begeistert und ein bisschen panisch. Es wird sicher seltsam und toll und ich werde auf jeden Fall davon berichten.

Heute werde ich den Tag damit verbringen, ein bisschen durchzudrehen und die Nacht damit, nur bruchstückhaft zu schlafen. Aber das ist okay. So ist das eben. Morgen wird das Adrenalin schon alles richten.

 

Schule.

Vielleicht sollte ich irgendwann mal ein Buch schreiben mit dem wunderbaren Titel „375 Arten, an der Schule zu scheitern, obwohl man einigermaßen intelligent ist.“ Es bekäme auch noch einen Untertitel oder wahlweise einen schicken Aufkleber, auf dem stünde „Mit freundlicher Unterstützung von erst im Masterstudium erkanntem Autismus.“ Die Schule war einfach kein guter Ort für mich, und das war in erster Linie sehr schade, denn ich bin eigentlich jemand, der sehr gerne lernt, neugierig ist und Spaß daran hat, sich mit allem Möglichen zu beschäftigen und zu versuchen, es zu verstehen. Im Grunde beste Voraussetzungen. Die Grundschule fand ich auch wirklich toll. Der Kindergarten war überhaupt nichts für mich gewesen und dem ersten Schultag habe ich entgegen gefiebert, sobald ich verstanden habe, was so eine Schule überhaupt ist. Das war irgendwann zwischen meinem vierten und fünften Geburtstag. Als es endlich soweit war, begann ich voller Eifer alles regelrecht aufzusaugen. Ich mochte jedes Schulfach und war in allem ziemlich gut. Außer in Sport. Ein bisschen wurde meine Begeisterung dadurch gedämpft, dass ich die meiste Zeit über eher unterfordert war. Zum Beispiel durften wir meistens am Ende der Unterrichtsstunden schon mit den Hausaufgaben beginnen, wenn wir mit unserer letzten Unterrichtsaufgabe früher fertig waren, und ich war immer so schnell, dass ich im Grunde nie irgendwas zu Hause machen musste. Es war auch immer so gut wie alles fehlerfrei. Wenn ich im Unterricht aufzeigte, nahmen mich die Lehrer kaum dran. Es war ohnehin klar, dass ich alles wusste. Ich war meistens im Stoff schon ein ganzes Stück voraus, wie eine richtige kleine Hermine Granger, nur ohne die ganze Magie, leider. Und ich freute mich riesig aufs Gymnasium und auf all die neuen, spannenden Fächer.

Leider war es dort dann überhaupt nicht mehr schön. Ich war überfordert. Nicht mit dem Stoff, zumindest nicht grundsätzlich oder von Anfang an, aber mit allem anderen, und dadurch dann letzten Endes auch mit dem Stoff. Anfangs überforderte mich ganz besonders die Situation, mitten in einer Schar von 35 Kindern zu sein, die alle ganz aufgeregt versuchten, einander kennen zu lernen, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu schließen. Im Kindergarten war das nicht so gewesen, da kamen jedes Jahr ein paar Kinder zu einer bestehenden Gruppe dazu, alles ging peu à peu, und wir waren auch insgesamt viel weniger Kinder. Außerdem konnte ich mich dem Gewusel dort besser entziehen. Es gab zwar ab und an gemeinsames Programm, aber die meiste Zeit konnte ich ganz in Ruhe am Mal- und Basteltisch verbringen. In der Grundschule bekam ich von diesem ganzen Kennenlerntreiben auch so gut wie nichts mit. Ich weiß nicht genau, woran das lag, aber ich denke, es war zum einen nicht so trubelig wie am Gymnasium und zum anderen war ich selbst einfach sehr stark auf den Unterricht und das Lernen fokussiert und habe mich bei allem anderen zurückgezogen und rausgehalten. Irgendwie ging das am Gymnasium nicht. Die gesamte Klasse war in den Pausen als riesige, laute Traube unterwegs und erkundete das Schulgelände. Mir war das viel zu viel. So viele Kinder auf einmal! Eine einzige andere Person hätte mir vollkommen gereicht. So eine Gruppe überforderte mich maßlos. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich mich verhalten oder was ich sagen sollte, wie ich irgendwie Kontakt aufnehmen konnte, auch wenn etwas in mir das ganz gerne wollte, zumindest zu einem gewissen Grad. Ich konnte das Ganze nur von außen betrachten und verstand nichts. So geriet ich schon in den ersten paar Tagen ins Abseits, in das ich über die kommenden Wochen und Monate hinweg immer und immer weiter hineinrutschte. Und da blieb ich auch die ganzen neun Jahre lang. Ich fand zwar nach einigen Wochen eine Freundin (oder besser gesagt: sie fand mich), die mit ihrer lieben, ruhigen, offenen Art genau der Mensch war, in dessen Gegenwart ich mich wohlfühlen konnte, und ich wurde über sie sogar Teil einer Viererclique, die die ganze Schulzeit über fest zusammenhielt, was unendlich wertvoll war, aber ich war eben für die Klasse trotzdem die Komische, die Abweisende, die Arrogante, Kalte, Blöde, mit der man nichts zu tun haben wollte, die man ärgern konnte, über die man lachte.

Das alles hemmte mich. Dass ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte und mich völlig fehl am Platz fühlte und dass die anderen Kinder so auf mich reagierten. Ich will ihnen nicht die Schuld geben, zumindest auf keine Fall die alleinige, denn ich muss ihnen mit meinem Verhalten einen Grund geliefert haben, so auf mich zu reagieren, wie sie es eben taten. Ich verstand das bloß alles nicht. Ich verstand nicht, was los war, was ich falsch machte, was falsch mit mir war, ich merkte nur, dass etwas nicht stimmte und dass das offensichtlich ich war. Das tat unheimlich weh. Ich verstand gar nichts. Und zog mich zurück. Ich fühlte mich unendlich unwohl. Jeder Schultag war eine Qual. Ich ging von Tag zu Tag weniger gerne hin. Ich zog mich mehr und mehr in mich zurück. In den ersten Tagen nahm ich noch begeistert am Unterricht teil, freute mich auf jedes neue Fach und wollte alles wissen, aber schon in den ersten paar Wochen nahm die Begeisterung rapide ab. Ich bekam das irgendwie nicht auf die Reihe, diese wahnsinnige Verunsicherung was all die sozialen Dinge betraf, dieses Miteinander, das ohne mich stattfand, teilweise sogar gegen mich und das ich überhaupt nicht begriff. Ich fühlte mich so hilflos und so gnadenlos überfordert, dass es mich mehr und mehr lähmte, bis ich irgendwann so gut wie gar nichts mehr machte. Ich saß nur so da und hörte zu, so gut es ging. Und selbst das wurde immer schwieriger, je unwohler ich mich mit der Gesamtsituation fühlte. Auch die Hausaufgaben zu erledigen fiel mir zunehmend schwer. Nach der Schule wollte ich einfach nur noch weg, nicht mehr an diesen fürchterlichen Ort denken, mit nichts mehr konfrontiert sein, was irgendwie damit zusammenhing. Dadurch wurden natürlich auch meine Leistungen immer schwächer. In manchen Fächern war ich einfach gut, ohne einen Finger dafür krümmen zu müssen, und in diesen Fächern konnte ich mir immerhin ein Minimum an mündlicher Mitarbeit erhalten, aber im Großen und Ganzen verstummte ich. Das war natürlich schlecht, nicht nur für meine mündlichen Noten, sondern auch für die schriftlichen. Wer die Hausaufgaben nur sehr schluderig und manchmal sogar gar nicht macht und im Unterricht nicht richtig anwesend ist, verliert den Anschluss, das ist vollkommen logisch. Das nagte sehr an meinem Selbstwertgefühl, das durch die ganze soziale Situation in der Klasse ohnehin schon ziemlich am Boden war. Und das führte zu noch mehr Rückzug und Passivität. Ich hatte irgendwie nicht die Kraft, etwas daran zu ändern. Und ich wusste auch nicht wirklich, wie ich das hätte anstellen sollen. Die Lehrerinnen und Lehrer verstanden mich auch nicht so recht. Sie hatten ja anfangs gemerkt, dass ich eigentlich ganz intelligent bin und alles recht schnell verstehe und außerdem war ich in den paar Fächern, die mir auch ohne jede Mühe sehr leicht fielen, weiterhin schriftlich gut bis sehr gut. Sie versuchten mit mir zu reden, aber ich begriff ja nicht mal selbst so richtig, was eigentlich mein Problem war, also konnte ich es unmöglich erklären und sie konnten es nicht erkennen. Sie versuchten auf die unterschiedlichsten Arten, mich zu mehr Mitarbeit zu animieren und mehr Leistung aus mir herauszukitzeln. Das setzte mich unheimlich unter Druck, auch wenn sie das sicher nicht so beabsichtigt hatten, und Druck konnte ich wirklich überhaupt nicht gebrauchen, weil ich mich ziemlich schwach fühlte. Ich war nach einiger Zeit schlicht und ergreifend nicht mehr in der Lage, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen oder mich gar daran zu beteiligen und irgendwann entwickelte ich auch eine trotzige Weigerungshaltung allem und jedem Gegenüber. Die war nicht immer da, kam aber immer mal wieder durch und diente im Nachhinein betrachtet vermutlich zu einem gewissen Teil dem Selbstschutz. Ganz bestimmt kamen auch noch sensorische Probleme dazu, die ich selbst zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst bemerkte oder gar erkannte, die aber natürlich trotzdem ihren Teil dazu beitrugen, dass ich völlig überfordert war und oft nicht mal einen klaren Gedanken fassen konnte. Meine soziale Überforderung war mir immerhin irgendwie bewusst, auch wenn ich sie nicht mal ansatzweise einordnen und greifen konnte. Alles, einfach alles war zu viel und machte mir einen Druck, dem ich nicht gewachsen war. Das einzige, was ich hinbekam, war diesen Druck irgendwie auszuhalten, die Tage zu überstehen und zu warten, dass die Zeit vergeht und nach der Schule endlich alles besser wird. Ich steckte mitten in einer Art Überforderungsstrudel, den niemand sehen konnte und aus dem ich nicht heraus kam. Ich begriff nicht, was los war und meine Lehrerinnen und Lehrer noch viel weniger. Sie hielten mich irgendwann einfach für faul und stur. Für eine Schulverweigerin. Dazu habe ich ihnen aus ihrer Sicht ganz bestimmt allen Grund gegeben. Dabei war ich tief in mir drin genau das Gegenteil.

Mit jedem neuen Schuljahr, mit jedem neuen Fachlehrer und jeder neuen Fachlehrerin, mit jedem neuen Fach nahm ich mir vor, es nun doch endlich hinzubekommen und die gute Schülerin zu sein, von der ich irgendwie immer noch wusste, dass ich sie eigentlich sein konnte. Vielleicht keine absolute Überfliegerin in allem, aber sicherlich nirgendwo wirklich schlecht, insgesamt irgendwo im guten Mittelfeld.  Aber ich scheiterte. Immer und immer wieder. Natürlich. Wie sollte ich auch ein Problem lösen, das ich überhaupt nicht erkannte? Ich kam da nicht mehr raus, aus diesem Strudel aus Überforderung, Angst, Unsicherheit, Verzweiflung, Selbstzweifeln, Scham, Wut, Trotz und Verwirrung. Ich biss mich einfach irgendwie durch, immer mit dem Ziel vor Augen, irgendwann mit der Schule fertig zu sein und danach mit was auch immer ganz neu anzufangen.

Während der inzwischen sieben Jahre nach meinem Abitur habe ich studiert, nebenbei gearbeitet und wahnsinnig viel gelernt. Einiges über Literaturwissenschaften, ein bisschen über Medienwissenschaften, ganz viel über Linguistik und vor allem sehr viel über mich selbst. Bald gehe ich wieder zur Schule. Zur Berufsschule. Nur an zwei Tagen in der Woche, aber immerhin. Ich habe ein bisschen Angst davor. Aber ich bin mir auch sicher, dass es nicht noch mal so wird, wie es am Gymnasium war.

Vielleicht bin ich unsichtbar.

Bei den Wegen, die ich regelmäßig gehe, kenne ich den Boden am besten, denn den schaue ich die meiste Zeit an. Mein Blick ist fast immer gesenkt und manchmal sogar mein Kopf. Nicht, weil ich traurig bin oder mich schäme oder sowas, nein, ich schaue einfach am liebsten auf den Boden. Da ist es ruhig. Und da sind keine Gesichter und keine Augen, in die ich schauen muss. Wenn man durch die Straßen geht, kommen einem nun mal oft Menschen entgegen und die sind in der Regel auch noch fremd. Ich schaue Menschen aber nicht gerne ins Gesicht oder in die Augen und Fremden ganz besonders nicht. Das ist für mich sehr unangenehm und anstrengend und ich meide es, wo ich nur kann. Also schaue ich, wenn ich unterwegs bin, vorwiegend auf den Boden. Meistens geht mein Blick in etwa zwei, drei Meter weit. Früher war das weniger, da habe ich vielleicht einen Meter nach vorne geschaut. Als Schülerin, vor allem in der Mittelstufe, habe ich oft sogar nur auf meine eigenen Füße gestarrt. Und wenn ich so mit gesenktem Blick herumlaufe sehe ich eben den Boden. Böden sind ganz unterschiedlich. Die, über die man draußen zu Fuß läuft, sind meistens mit Pflastersteinen ausgelegt. Da gibt es glatte und raue, kleinere und größere, graue, bläuliche, rötliche, grünliche und bräunliche, rechteckige, quadratische, kunstvoll gezackte und unförmige, manche sind streng und sorgsam angeordnet, ganz so, als hätte jemand jeden Abstand und jede Ausrichtung genaustens überprüft und andere liegen so schief und wild verstreut herum, als hätte die Person, die sie so expressionistisch platziert hat, keinen Gedanken daran verschwendet, was das Gesamtbild hergibt und ob das, was sie da macht, auch nur im entferntesten pflastersteinressourcenschonend ist. Ich schaue gerne auf den Boden und mag es, meinen Gehrhythmus an ihn anzupassen, immer gleich viele Pflastersteine mit einem Schritt zu überschreiten zum Beispiel, oder immer in einer bestimmten Pflastersteinreihe zu bleiben, oder immer genau in die Mitte eines Pflastersteins zu treten. Besonders viel Spaß macht das, wenn die Größe und Anordnung der Pflastersteine zu meiner Schrittlänge passt und ich mein Schritttempo nicht anpassen muss. Das ist dann, als hätte jemand diesen Boden extra für mich gemacht.

Natürlich schaue ich nicht die ganze Zeit nur auf den Boden. Zwischendurch wandert mein Blick immer wieder hoch, nach vorne, damit ich sehen kann, was auf mich zukommt und worauf ich zugehe. Ich will niemanden über den Haufen rennen und auch nicht mit Laternen und parkenden Autos kollidieren. Ich selbst werde dafür aber ziemlich oft über den Haufen gerannt und angerempelt, dabei passe ich wirklich gut auf. Wenn mir jemand entgegen kommt, muss ich eigentlich immer ausweichen, denn wenn ich das nicht mache, kommt es zu einem Zusammenstoß. Mir weicht niemand aus. Wenn ich irgendwo stehe, zum Beispiel am Bahnhof, werde ich fast immer von Vorbeigehenden gestreift oder sogar angerempelt, obwohl ich sehr darauf achte, nicht im Weg zu stehen. In der Bahn muss ich immer aufpassen, dass ich keine Ellbogen ins Gesicht oder in die Rippen gerammt bekomme. Es passiert auch immer wieder, dass Menschen ihre Taschen, Rucksäcke und Koffer auf meinen Füßen platzieren oder sich einfach so vor mich stellen, dass ich wortwörtlich in die Ecke gedrängt werde. Wenn ich irgendwo anstehe und die letzte in der Schlange bin, kommt es manchmal sogar vor, dass jemand Neues dazu kommt und sich einfach vor mir anstellt. Mir haben auch schon Menschen die Tür direkt vor der Nase zugemacht, obwohl sie sich beim Schließen noch mal umgedreht und mich angesehen haben. Und einmal hat sich in der U-Bahn tatsächlich jemand um ein Haar auf mich draufgesetzt. Es ist dann, als wäre ich gar nicht da, als würden all diese Menschen mich überhaupt nicht sehen, sie schauen einfach durch mich hindurch. Ich bin zwar klein und zierlich, aber doch nicht so winzig, dass man mich nicht sehen kann! Immer, wenn sowas passiert, und das ist fast jedes Mal der Fall, wenn ich irgendwo bin, wo andere Menschen sind, frage ich mich kurz, ob ich wirklich da bin oder ob ich mir meine Existenz nicht einfach nur einbilde. Aber ich fühle mich eigentlich ziemlich real. Vielleicht bin ich also unsichtbar.

Ich glaube wirklich nicht, dass so viele Menschen mich absichtlich übersehen, weil sie böse sind und mir eins auswischen wollen oder weil sie egoistisch und rücksichtslos sind und denken, ich müsste ihnen eben Platz machen oder sowas. Nein, ich bin mir meistens absolut sicher, dass sie mich tatsächlich nicht wahrnehmen. Irgendwas habe ich scheinbar an mir, das dafür sorgt, dass Menschen überhaupt nicht bemerken, dass ich da bin. Es ist, als würde ich eine Tarnkappe tragen, oder so einen Umhang, wie ihn Harry Potter hat, oder vielleicht den einen Ring aus „Der Herr der Ringe“. Ich glaube, Menschen können mich oft einfach nicht sehen. Und ich denke inzwischen, das liegt daran, dass ich immer auf den Boden schaue. Denn dabei sieht man meine Augen nicht; ich schaue niemandem ins Gesicht. Vielleicht bin ich dadurch so unscheinbar, dass die Menschen mich einfach ausblenden. Vielleicht macht es regelrecht unsichtbar, den Blick gesenkt zu haben. Wie bei dieser Spionin aus „Asterix und Kleopatra“. Wenn sie den Blick gerade nach vorne richtet und die Menschen anschaut, sieht man sie. Schaut sie nach unten und verdeckt so mit den Lidern ihre Augen, sieht man sie nicht. Und wenn sie nur ein bisschen aufsieht, sodass ihre Augen ungefähr zur Hälfte sichtbar sind, dann sieht man sie tatsächlich nur ein bisschen. Ich probiere das manchmal am vollen S-Bahnhof aus, das mit dem gehobenen Blick und dem Anschauen der anderen Menschen. Wenn mir ein ganzer Schwall umsteigender Leute entgegen kommt, dann hebe ich manchmal den Blick und schaue ihnen so gut es geht in die Gesichter, und es wirkt. Man macht mir oft Platz. Man weicht mir oft aus. Man achtet oft darauf, mich nicht über den Haufen zu rennen. Ich mache das nicht gerne und ich mache es nur manchmal, wenn das direkte Ansehen gerade irgendwie weniger unangenehm ist, als bei jedem Schritt angerempelt zu werden. Und vielleicht ist das wirklich der ganze Trick. Vielleicht sind Augenlider wie ein Tarnumhang.

https://www.youtube.com/watch?v=dzwIjF1hpnA

Besuch ist schwierig.

Besuch macht mich fertig. Ich meine damit keine stundenweisen Treffen, die natürlich auch anstrengend sein können, sondern so richtigen Besuch mit Übernachtungen und allem drum und dran. Damit komme ich einfach nicht zurecht. Das ist mir zu viel, egal ob als Gastgeberin oder als Gast.

Als Kind war das irgendwie noch okay. Meine Eltern und die Eltern meiner Freundinnen achteten darauf, dass die Übernachtungsbesuche nur ab und an stattfanden und die Zeit relativ eng begrenzt war. Wir trafen uns am späten Nachmittag und am nächsten Morgen wurden wir gleich nach dem Frühstück abgeholt. Ich hatte dabei immer Spaß, aber ich war auch jedes Mal sehr froh, wenn ich schlafen konnte und besonders, wenn ich wieder zu Hause war oder die Freundin, die bei mir übernachtet hatte, abgeholt worden war. Ich war dann unheimlich erschöpft und brauchte jede Menge Zeit für mich alleine, um mich zu erholen.

Nach dem Abitur bin ich zum Studium zu Hause ausgezogen und es wurde wesentlich schwieriger. Plötzlich waren Übernachtungsbesuche die einzige Möglichkeit, meine Freundinnen zu treffen und sie dauerten auch deutlich länger, weil wir weit voneinander entfernt wohnten und sich die Fahrerei für eine Nacht überhaupt nicht gelohnt hätte. Inzwischen ist die Entfernung noch größer. Ich mag meine Freundinnen sehr, sonst wären sie nicht meine Freundinnen, und ich verbringe auch gerne Zeit mit ihnen, aber nicht so. Das lange, ununterbrochene Zusammensein strengt mich maßlos an. Mein Tagesablauf wird durcheinandergewirbelt und kommt völlig aus dem Takt, wenn jemand bei mir ist und natürlich noch mehr, wenn ich woanders bin. Das belastet mich. Wenn jemand länger als ein paar Stunden bei mir ist, fühle ich mich bedrängt und eingesperrt. Ich muss mich zwangsläufig nach meinem Besuch richten und auf seine Bedürfnisse eingehen und ich möchte es auch, damit es ihm gut geht. Das fällt mir allerdings über mehr als einen Nachmittag hinweg schwer. Aber meine Gäste sollen sich schließlich wohlfühlen, also strenge ich mich an. Sie haben einen weiten Weg und viele Umstände auf sich genommen, nur um mich zu sehen, da möchte ich ihnen natürlich eine schöne Zeit bieten. Das heißt, dass ich ihnen zumindest meine Aufmerksamkeit schenken muss und mich nicht die Hälfte der Zeit im Schlafzimmer verkriechen kann, auch wenn ich das am liebsten machen würde. Wenn ich jemanden besuche, ist es noch schlimmer, denn dann kommt noch hinzu, dass ich nicht mal in meiner gewohnten Umgebung bin, und das setzt mir über mehrere Tage hinweg zu. Wenn ich Besuch habe, wünsche ich mir spätestens nach ein paar Stunden, dass er wieder abreist, und wenn ich irgendwo zu Gast bin, möchte ich allerspätestens am nächsten Morgen, oft schon am ersten Abend, direkt wieder nach Hause. Egal, wie sehr ich meine Freundinnen mag und wie wohl ich mich in ihrer Gegenwart fühle, wie sehr ich mich auch freue sie zu sehen und Zeit mit ihnen zu verbringen, der Stress, den solche Besuche auslösen, ist einfach enorm.

Und er fängt jedes Mal schon lange im Vorfeld an. Wenn mich jemand besuchen oder einladen möchte, dann freue ich mich zuerst immer und manchmal stimme ich sogar vage zu, ohne gleich einen festen Termin auszumachen. Danach wird es aber auch schon schwierig. In mir baut sich eine immer größer werdende Ablehnung auf. Ich will einfach nicht. Ich bin überfordert, alles ist zu viel. Der bloße Gedanke daran, dass jemand zu mir kommt oder ich irgendwo hinfahren soll und mein gesamter Alltag für mehrere Tage völlig durcheinander gerät, ist schrecklich. Der Gedanke daran, mehrere Tage von morgens bis abends nicht allein sein zu können und die ganze Zeit meine Aufmerksamkeit auf eine andere Person richten zu müssen, löst puren Stress aus. Es ist alles zu viel. Viel zu viel. Ich bin überfordert und werde immer unruhiger und nervöser. Während eines Besuches stauen sich schnell immer mehr negative Gefühle in mir auf, die sich vor allem gegen die andere Person richten. Ich weiß natürlich, dass sie nichts dafür kann und nichts falsch gemacht hat. Es ist einfach meine Überforderung durch die Gesamtsituation. Das macht es aber nicht leichter. Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, an dem ich die Abreise überhaupt nicht mehr abwarten kann. Dann muss ich besonders hart mit mir kämpfen, um mir nichts anmerken zu lassen, die negativen Gefühle zu unterdrücken und nichts an meiner Freundin auszulassen. Nach dem Besuch brauche ich immer ziemlich viel Zeit, um mich zu erholen. Ich bin erschöpft und gerädert. Oft dauert es tagelang, bis ich wieder in meinem Rhythmus bin und mich gut fühle. Und das, obwohl die Zeit an sich schön war und wir tolle Gespräche geführt haben und all solche Dinge. Es war bloß zu lang und das Zusammensein zu eng. Meistens findet der Besuch deshalb erst gar nicht statt. Ich spreche das Thema selbst nicht mehr an und wenn die andere Person davon anfängt, wende ich es ab und erkläre, dass es aus diesem oder jenem Grund gerade nicht passt.

Dass ich mich überwinde und einem Besuch endgültig zustimme, passiert wirklich selten und das letzte Mal ist schon zwei Jahre her. Jedes Mal bin ich vollkommen hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Zeit mit meinen Freundinnen zu verbringen und das Zusammensein mit ihnen zu genießen und der starken inneren Abwehr, die Besuche immer in mir auslösen und gegen die ich einfach nichts machen kann. Das ist schade. Es macht mich traurig. Es tut mir leid, dass ich nicht die Freundin sein kann, die meine Freundinnen verdient hätten. Eine, die sie jederzeit mit offenen Armen und voller ungetrübter Freude aufnimmt. Eine, die gerne ihre Koffer packt und sie besucht, um zu sehen, wie sie inzwischen wohnen und was ihre Lieblingsorte sind. So jemand bin ich aber nicht. Das wird sich nicht ändern. Im Grunde ist es okay. Ich bin so, wie ich bin, und damit komme ich inzwischen wirklich bestens zurecht. Trotzdem möchte ich die, die mir am Herzen liegen, nicht enttäuschen und verletzen und ihnen nicht das Gefühl geben, mit ihnen weniger oder nichts mehr zu tun haben zu wollen. Deshalb würde ich manchmal gerne was ändern, auch wenn ich weiß, dass das nicht geht.