Stur, bockig und faul, das war ich vor allem als Kind und auch als Jugendliche. So sah es wohl zumindest von außen aus, denn das wurde mir immer wieder rückgemeldet.
Innen war es anders. Innen war ich in erster Linie überfordert, und zwar mit Dingen, bei denen man das, vor allem bei einem recht intelligenten und sprachgewandten Kind wie ich es war, nicht erwartete. Ich war damit überfordert, zum Bäcker zu gehen und Brötchen zu kaufen. Ich war damit überfordert, im Supermarkt zur Frischwarentheke zu gehen und Käse und Wurst zu kaufen. Sogar das Bezahlen an der Kasse war eine echte Hürde. Es überforderte mich, Nachbarinnen und Nachbarn auf der Straße zu grüßen, und das ist in einem kleinen Dorf wirklich nicht schön, weil da andauernd jeder jeden grüßt. Und ich war damit überfordert, mein Zimmer aufzuräumen. Das war längst noch nicht alles, aber es waren Dinge, die mir besonders zusetzten und die besonders oft zu Streit und Problemen führten.
Was mich überforderte, war, dass ich nicht wusste, wie ich diese Dinge erledigen sollte. Mir fehlten die Strukturen hinter den Tätigkeiten, die Regeln und Muster, nach denen sie ablaufen mussten. Ich versuchte, durch Beobachten herauszufinden, was ich wann und wie machen musste, aber irgendwie gelang es mir nicht. Die Prozesse schienen viel zu komplex. Beim Bäcker fing es schon beim Betreten des Ladens an. Musste ich da schon jemanden anschauen, jemanden grüßen, irgendwas Bestimmtes tun? Und wo musste ich mich hinstellen? Das war auch immer an der Frischwarentheke im Supermarkt schwierig. Die Leute standen ohne ein für mich erkennbares Schema nebeneinander herum und trotzdem wusste immer jeder genau, wann er an der Reihe war. Ich nicht. Ich war verwirrt. Die Menschen verhielten sich unstrukturiert, wanderten vor der Auslage herum, betrachteten die Lebensmittel und irgendwann reagierten sie auf „Wer ist der Nächste?“ mit „Ich!“ Das bekam ich nicht hin. Ich fand nie heraus, wann ich an der Reihe war. Deshalb stand ich oft viel zu lange vor der Theke herum und wurde von einem Kunden nach dem anderen übergangen. Vermutlich hielt ich auch immer viel zu viel Abstand zu dem ganzen Treiben und wirkte nicht so, als wollte ich etwas bestellen. Im Grunde genommen wollte ich das auch nicht. Ich wollte weg. Dass ich schließlich doch zu meiner Bestellung kam, verdankte ich so gut wie jedes Mal einer aufmerksamen Person, die sowas sagte wie „Die junge Dame war vor mir da, sie ist dran.“ Danach folgte immer ein sehr unangenehmes Gespräch, in dem ich meine Bestellungen mehrmals wiederholen musste, weil ich nicht in der Lage war, laut und deutlich genug zu sprechen. Dafür war ich viel zu angespannt und dann waren meine Probleme, meine Stimme richtig einzusetzen und einzuschätzen, ganz besonders groß. Eine Zeit lang war es noch okay, den Verkäuferinnen und Verkäufern einfach den Einkaufszettel, den meine Eltern mir geschrieben hatten, in die Hand zu drücken, aber irgendwann merkte ich, dass ich dafür inzwischen nicht mehr jung genug war. Und selbst, als ich den Zettel noch einfach rüberreichen konnte, war ich überfordert mit dem, was ich sagen musste, dem einfachen „Bitte“ und „Danke“, mit der gesamten Situation. Ich bekam meinen Mund nicht auf. Es kamen einfach keine Worte, als hätte ich mit dem Betreten des Ladens das Sprechen verlernt. Ich konnte nicht. Ich konnte mein Gegenüber nicht einmal ansehen oder freundlich lächeln. Ich wusste nicht, wie.
So ging es mir auch immer mit den Nachbarinnen und Nachbarn auf der Straße. Ich wusste, dass ein Gruß erwartet wurde und meine Eltern schärften mir das auch regelmäßig ein, aber ich bekam es nicht hin. Den Menschen ins Gesicht zu sehen, in die Augen, und dann noch lächeln und einen passenden Gruß aussprechen, das schaffte ich einfach nicht. Nicht, weil ich nicht wollte, weil ich unhöflich und stur war, sondern weil es schlicht und ergreifend zu viel war. Weil es mich maßlos überforderte, anderen in die Augen zu schauen, vor allem mehr oder weniger fremden Personen. Weil ich nicht wusste, was ich wann und wie genau machen musste. Mir war nicht klar, was exakt das richtige Verhalten in diesem Moment war und da mir die Intuition für sowas eben fehlt, konnte ich es auch nicht ermitteln. Da war kein Gefühl, auf das ich mich verlassen konnte. Das habe ich bis heute nicht und werde es nie haben. Ich hätte ganz klare und eindeutige Instruktionen gebraucht. Die gab es aber nicht.
Und genau das war auch das Problem mit dem Zimmer aufräumen. Mein Zimmer sah so gut wie immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, wie meine Eltern es sehr treffend formulierten. Das war nicht schön, auch für mich nicht. Aufräumen konnte ich es trotzdem nicht. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht wusste, wie. Ich sah nur Chaos, ein unglaubliches Chaos aus unglaublich vielen Einzelteilen und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich das in Ordnung bringen sollte, also ignorierte ich es. Ab und an sprachen meine Eltern ein Machtwort und dann blieb mir nichts anderes übrig, als doch aufzuräumen, aber es war jedes Mal ein furchtbarer innerer Kampf. Ich tigerte aufgewühlt durch mein Zimmer, raufte mir die Haare, bohrte mir die Fingernägel ins Gesicht und wollte mich nur noch unter der Bettdecke verkriechen und weinen. Oft saß ich irgendwann ratlos auf dem Boden und starrte ins Leere, bis ich mich wieder gefangen hatte. Dann begann ich, ziellos Gegenstände von einer auf die andere Stelle zu räumen und quälte mich langsam durch, bis ich es irgendwie geschafft hatte. Ich mochte die Ordnung danach immer, aber ich schaffte es nicht, sie aufrecht zu halten und sobald es wieder chaotisch war, war ich wieder überfordert und wollte mich dem nicht stellen, denn es fühlte sich einfach schrecklich an.
Als meine Eltern anfingen, mir kleine Aufgaben wie Brötchen holen und Aufschnitt einkaufen zu übertragen, versuchte ich, ihnen mitzuteilen, dass ich das nicht konnte und es für mich zu viel und ganz fürchterlich war, aber das bekam ich nicht hin. Meine Versuche klangen wohl wie unglaubwürdige Ausreden, die ich mir ausdachte, weil ich keine Lust hatte, diese Aufgaben zu erledigen, jedenfalls kamen meine Eltern zu dem Schluss, dass ich mich aus Faulheit und Trotz weigerte. Irgendwann nahm ich die Faulheit und den Trotz für mich an. Aus meinem „Ich kann das nicht“ und „Ich weiß nicht, wie“ wurde ein „Ich will das nicht“, und das war ja nicht einmal falsch. Ich wollte diese Dinge, die mich so sehr überforderten, nicht machen. Bloß aus einem ganz anderen Grund, als es den Anschein hatte. Genauso war es auch mit meinem unordentlichen Zimmer und den Nachbarinnen und Nachbarn. Ich wirkte faul, stur und unhöflich, also fing ich irgendwann an, das selbst so zu formulieren. „Ich räume mein Zimmer nicht auf, ich habe keine Lust dazu und mich stört das Chaos gar nicht!“ „Nein, ich will die alle nicht grüßen, die sind sowieso doof, mir doch egal, was die denken!“ Das war zu dem Zeitpunkt, zu dem ich mit diesen Ausreden anfing, nicht einmal komplett gelogen, zumindest was die Menschen im Dorf betraf. Es verband mich nichts mit ihnen. Das war aber nicht der Grund für mein Verhalten und unhöflich und abweisend sein wollte ich eigentlich gar nicht. Aber die Ursache, meine tiefe Überforderung, konnte ich mir selbst nicht eingestehen und anderen dadurch natürlich erst recht nicht. Wer gibt auch schon gerne zu, so vollkommen alltägliche und banale Dinge nicht hinzubekommen? Ich fühlte mich wie eine absolute Versagerin und die wollte ich nicht einmal vor mir selbst sein. Vor anderen schon mal überhaupt nicht. Da war ich lieber bockig, stur und faul.
Inzwischen ist das alles besser geworden. Die Schwierigkeiten an sich sind immer noch da, aber ich habe es geschafft, mir Verhaltensmuster für Wursttheken und grüßende Menschen auf der Straße anzueignen und kann sie anwenden, wenn es sein muss. Das war harte Arbeit und unangenehm sind diese und ähnliche Situationen immer noch für mich. Ich vermeide es tunlichst, Brötchen oder sonst irgendwas an einer Theke einzukaufen. Eine Nachbarschaft, in der man sich grüßt, habe ich schon seit Jahren nicht mehr und für mein Aufräumproblem habe ich mir, wie für so Vieles, eine kleinteilige Strategie erarbeitet. Ich bin immer noch überfordert, aber ich weiß inzwischen, wie ich damit umgehen muss.