Wie bei vielen Autistinnen und Autisten verarbeitet mein Hirn sensorische Reize nicht so, wie es soll. Was dabei konkret nicht richtig funktioniert, ist der Reizfilter. In jedem Moment prasseln unzählige Reize auf uns ein, und zwar auf uns alle, egal ob autistisch oder nicht. Diese Reize werden aber nicht alle bewusst wahrgenommen, denn das wäre viel zu viel. Zwischen den prasselnden Reizen und der bewussten Wahrnehmung im Hirn ist deshalb ein Filter, der dafür sorgt, dass nur ein kleiner Teil der Reize tatsächlich richtig bei uns ankommt. Der Rest wird einfach ausgeblendet und ignoriert. Was durchkommt, ist das, was der Filter sozusagen für relevant hält. Das kann zum Beispiel die Stimme eines Gesprächspartners sein, die im Gespräch logischerweise eine hohe Relevanz hat, während die Stimmen von anderen sich miteinander unterhaltenden Anwesenden, beispielsweise in einem Restaurant, irrelevant sind. Also weg damit. Ziemlich praktisch, so ein Filter! Wenn er denn richtig arbeitet. Macht er das nicht, dringen viel mehr oder auch viel weniger Reize zu einem durch, als notwendig, und das kann im schlimmsten Fall sogar ein echtes Problem sein.
Bei mir sind es in erster Linie zu viele Reize. Das strengt mich sehr an und sorgt obendrein dafür, dass ich oft nicht so richtig erkennen kann, was eigentlich gerade wichtig ist. Das heißt, ich muss mich in verschiedenen Situationen ziemlich stark konzentrieren, um die mangelnde Funktionalität meines Reizfilters ein bisschen auszugleichen. Das kann man an der genannten Situation mit dem Gespräch im Restaurant ganz gut verdeutlichen. Ich sitze also da und unterhalte mich und um mein Gegenüber und mich herum sitzen noch ein paar andere Menschen, die sich ebenfalls unterhalten. Das höre ich. Die ganze Zeit. Nicht als leises Hintergrundrauschen, sondern sehr klar und deutlich und doch auch undeutlich und wirr, denn ich kann das Ganze nicht sortieren. Es ist ein ziemliches Stimmengewusel und mein Hirn versucht, es zu entwirren und zu verstehen, was da gesagt wird, statt es einfach auszublenden. Das ist kontraproduktiv. Ich will ja verstehen, was mein Gegenüber sagt und nicht, was alle anderen sagen. Also volle Konzentration! Wenn ich mich genug anstrenge, verstehe ich das, was ich verstehen will. Das klappt aber leider nicht immer besonders gut und vor allem nicht besonders lange und es macht auch ziemlich müde. Zu den Gesprächen der anderen Menschen kommen ja auch noch jede Menge andere Reize. Stuhlgerücke, Gläsergeklirr, Besteck- und Geschirrgeklapper, möglicherweise sogar Musik, und das sind nur die Geräusche. All die Reize machen mein Hirn immer voller und voller und je voller es ist, umso schwieriger wird das mit der Konzentration. Das wirkt sich unter Umständen auf alles aus, was ich gerade machen möchte oder müsste. Nach einem Glas greifen zum Beispiel. Mit einem vollen Hirn ist es ziemlich schwierig, meine Bewegungen zu koordinieren. Da stoße ich so ein Glas beim Versuch, es zu greifen, schon mal an oder gar um. Arm und Hand lassen sich einfach nicht mehr so präzise steuern und warum zur Hölle stand das blöde Ding denn so dicht dran, irgendwie habe ich den Abstand ganz anders eingeschätzt. Oder zur Toilette gehen. Wo muss ich noch gleich langlaufen? Ich frage mein Gegenüber zur Sicherheit noch mal und lasse mir den Weg erklären, aber das Zuhören ist mit dem vollen Hirn so schwierig und erst das Merken! Alles entgleitet mir noch im selben Moment, in dem ich es höre. Außerdem kann man den Eingang zum Toilettenbereich von meinem Sitzplatz aus nicht sehen und ich weiß gerade auch gar nicht, wo rechts und wo links ist. Ich laufe trotzdem los, die ungefähre Richtung kenne ich jetzt. Aber wie soll ich den Weg bloß finden, wo ich die ganze, simple Beschreibung schon wieder vergessen habe? Und dann sind da auch noch diese unfassbar vielen visuellen Reize. Die sind für mich noch viel schwerer zu filtern als akustische Reize. So viele Menschen, Tische, Lichter, Bilder an den Wänden, überhaupt, diese ganzen Farben, rumlaufende Servicekräfte, alle bewegen sich irgendwie, überall flackert und flimmert es irgendwie und aua, mein Fuß! Das war wohl ein Stuhlbein. Wo kam das blöde Ding denn plötzlich her, der Stuhl muss mir in den Weg gesprungen sein, der hat sich doch plötzlich materialisiert, ich habe den gar nicht gesehen! Und wo ist die verdammte Tür zu den Toiletten, die muss doch hier irgendwo sein! Okay. Moment. Bleib stehen. Atme durch. Schau dich um. Toiletten sind in Restaurants immer irgendwie ausgeschildert. Beruhige dich. Such nach einem Schild. Nicht bewegen. Bewegen und Schild suchen auf einmal ist gerade zu viel. Das Hirn rattert und rattert und ah! Da ist es ja. So, jetzt einfach ruhig drauf zugehen, durch die Tür, geschafft. Wunderbar. Einen Moment Ruhe. Pause. Das Hirn sich ein bisschen erholen lassen.
In solche Situationen begebe ich mich nicht oft. Nicht mehr. Lange Zeit habe ich überhaupt nicht verstanden, was eigentlich mein Problem ist. Jetzt, da ich weiß, dass ich Autistin bin und mein Hirn deshalb alles ein bisschen anders verarbeitet, eben auch sensorische Reize, ist mir vieles klar. Ich erkenne, woran es hakt und weiß, wie ich mich schützen kann. Dass ich dafür sorgen sollte, dass mein Hirn nicht zu voll wird und wie ich das anstellen kann. Nicht in riesige, volle Restaurants gehen zum Beispiel, vor allem nicht am Samstagabend, wenn dort besonders viel los ist, sondern lieber in kleine, leere, am besten unter der Woche, wenn ohnehin nicht so viele Leute essen gehen. Grundsätzlich gehe ich nämlich total gerne in Restaurants. Es müssen nur die richtigen sein. Natürlich kann ich dort auch ein überfülltes Hirn bekommen, aber nicht so schnell und normalerweise auch nicht so heftig. Ich kann solche Restaurantbesuche oft bis zum Ende genießen und bin nachher bloß ein bisschen erschöpfter als andere Menschen. Dann gönne ich mir danach eben ein wenig Ruhe und alles ist gut. Akustische und vor allem auch visuelle Reize lassen mein Hirn besonders schnell voll werden. Deshalb habe ich, wenn ich es nicht gerade aus lauter Schusseligkeit vergesse, immer meinen MP3-Player und meine Ohrstöpsel dabei, um mich von Geräuschen abzuschirmen und auch eine Sonnenbrille, um alles Sichtbare ein bisschen zu dämmen. Das hilft mir enorm. Und trotzdem komme ich immer wieder in Situationen, in denen alles zu viel ist. Denn jeder Tag ist anders. An manchen kann ich viel mehr aushalten als an anderen und wie der Tag wird, kann ich vorher nicht wissen. Ich schaffe es auch nicht, jeden Tag aufmerksam genug mit mir zu sein. Es kommt immer wieder vor, dass mich übernehme und dann ziemlich plötzlich, in aller Regel auf dem Heimweg, ziemlich heftig merke, dass das jetzt aber wirklich zu viel war und ich eigentlich umgehend irgendwo sein sollte, wo es still und dunkel ist, weil ich gar nichts mehr aushalten kann. Leider hat bisher noch niemand das Beamen entwickelt, was in so einer Situation echt praktisch wäre, deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als über die normalen Wege nach Hause zu kommen, und das sind in meinem Fall öffentliche Verkehrsmittel. Die sind natürlich alles andere als ideal, wenn man gerade Stille und Dunkelheit braucht und oft reichen Ohrstöpsel und Sonnenbrille in solchen Extremsituationen nicht. Und so kommt es dann, dass ich mir manchmal einfach die Augen zuhalte, mit beiden Händen, ganz fest, sodass nur noch winzigste Lichtpartikelchen durch meine geschlossenen und abgeschirmten Lider dringen können. Dann kann mein Hirn sich ein wenig erholen und genug Platz schaffen, um mich sicher nach Hause zu steuern.